DIE KRITISCHE STADT
Marcus Steinweg, für Wolfgang Lehrner
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1. RUINE
Die kritische Stadt ist Stadt in der Krise. Wie ein verletztes Tier bewegt, transformiert, reanimiert sie sich am Rand ihres Abgrunds. Sie droht, wenn nicht abzustürzen, doch zumindest zu stürzen. Die Krise verheißt ihren Kollaps. Wir müssen sie uns als einen Patienten vorstellen, dessen Zustand kritisch genug ist, um ihn mit seiner Sterblichkeit zu konfrontieren. Auch Städte sind endliche Wesen. Sie vergehen, indem sie ihrem Ende entgegengehen. Manchmal explodieren sie, um unmittelbar darauf zu verfallen. Eine Stadt kann sich selbst verloren gehen, ohne zu verschwinden. Sie zerfasert sich an der eigenen Peripherie. Sie franst aus. Sie zerfällt. Sie ruiniert sich, bäumt sich auf als Ruine, durch die ihre Vergangenheit glänzt.
2. KRISEIm Glanz der Ruine bleibt ihr eine Zukunft versprochen. Ruinen leben länger, denn sie implizieren den Verzicht auf Integrität. Das überhaupt ist Merkmal alles Lebendigen: Integritätsverzicht, die Bereitschaft wie die Kapazität, sich über sich hinaus auszudehnen, sich in sich zu verkriechen, die eigenen Grenzen zu verletzen, sie zu redefinieren. Man könnte auch von der Plastizität der Stadt sprechen, ihrer Kraft zur kontinierlichen Rekonstruktion. Nur handelt es sich um eine in die Zukunft gerichtete Auferstehung. Die Krise ist der Moment, in dem Zukunft in der Zerstörung aufblitzt. Im Bild der Ruine blitzt das Bild einer unbestimmten Hoffnung aufs Neue auf. Neu am Neuen ist, dass es irreduzibel aufs Vergangene bleibt, ohne den Kontakt zu ihm zu verlieren. Die Krise ist der Moment, der nach einer Entscheidung verlangst. Sie ist zugleich der kritische Augenblick der Entscheidung, in dem sich die Zukunft mit der Vergangenheit kreuzt.
3. ERFINDUNGDas Subjekt der Entscheidung, die einen Haufen undurchsichtiger Urteile impliziert, kann die Stadt selbst sein. Die Stadt als Schauplatz der Entscheidung, deren Subjekt und Objekt sie gleichermaßen ist. Die kritische Stadt ist die Szene ihrer kontinuierlichen Selbsterfindung. Wie jeder weiß, impliziert Erfindung Zerstörung. Man kann diese Szene auch als die unendlicher Selbstdekonstruktion beschreiben, als Ort unaufhörlicher Selbstkomplizierung. Der kritische Zustand der Stadt ist ihre Normalität. Keine Stadt, die nicht an ihre Inkonsistenz rührte. Sie ist System ihrer Öffnung auf ihre Grenzen. Sie bewegt sich entlang dieser Grenzen über sie hinaus. Sie rekonfiguriert sich als ihr eigenes Plasma. Sie ist Plastik oder Skulptur. Alle Nischen, Winkel, Linien, Wege, Richtungen, Öffnungen, Grenzen, Buchtungen und Verläufe, die sie ausmachen, um sie mit der Erde, wie mit dem Himmel, dem Meer, der Wüste, den Tieren und Menschen, die in ihr koexistieren, zu vernähen, konstituieren sie als gewaltigen Transformator, eine Art atmender Maschine, deren Reparatur keinen Abschluss findet, so wie ihr Atmen nicht still gestellt werden kann. Ein großes, atmendes, ebenso waches wie schlafendes Tier. Mal auf dem Sprung in seine Zukunft, dann wieder, im Schlaf, breit auf seine Gegenwart verteilt.
4. SUBJEKTDas Subjekt der Stadt ist situatives Subjekt. Es bewegt sich nicht im luftleeren Raum. Vielmehr gehört es einer Tatsachenzone an, die vielfältig determiniert ist und selbst als Determinante auf es einwirkt. Gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische, politische, institutionelle etc. Parameter strukturieren seine Welt. Zur Realität des Subjekts gehört reale Dependenz. Nie ist es frei von Kodierungen, die sein objektives Sein in der Welt bestimmen. Folglich bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich so aufmerksam wie möglich zu seiner Welt zu verhalten, was eine gewisse Kritizität einschließt, die Bereitschaft den Weltzusammenhang, dem es angehört, in Frage zu stellen, um ihn besser zu verstehen. Infragestellung, die ein Höchstmaß an kritischer Sensibilität verlangt, insofern sie ein Sicheinlassen auf die Situation ebenso verlangt, wie Abstandnahme, eine gewisse Distanz (1). Nur handelt es sich um eine Distanz, die inmitten der gegebenen Lage operiert. Eine aktive Distanzierung von den geltenden Parametern der etablierten Realität bei voller Konfrontation ihrer faktischen Existenz. Zur kritischen Einstellung gegenüber der eigenen Situation gehört die fortlaufende Auseinandersetzung mit ihr. Situativ ist das Subjekt auch in dem Sinn als dass sich seine Situation kontinuierlich ändert. Folglich muss das Denken und die Analyse dieser Situation sich mit ihrer Veränderung verändern. Es kommt zu keinem finalen Ergebnis mit letzter Gültigkeit. Zum Sicheinlassen auf seine Situation gehört weiterhin das Markieren eines gewissen Abstands zu ihr. Das Subjekt intensiviert den Kontakt zu seiner Realität, indem es ihr einen Widerstand einträgt (2). Was Gilles Deleuze die „grundlegende Affinität zwischen einem Kunstwerk und einem Widerstandsakt“(3) nennt, artikuliert den Riss zwischen dem Subjekt und seiner Welt.
5. CHAOSErst im Austausch mit dem Chaos, in Kooperation mit ihm, wenn man so sagen kann, konstituiert sich das Subjekt als ein Subjekt ohne Subjektivität. Ohne Subjektivität will heißen: ohne substanziale Sicherung, ohne fixe Natur, ohne Gott. „Die Ordnung Gottes“, schreibt Deleuze in Logique du sens (1969), „umfaßt alle diese Elemente: die Identität Gottes als letztes Fundament, die Identität der Welt als umgebendes Milieu, die Identität der Person als wohlbegründete Instanz, die Identität der Körper als Basis, schließlich die Identität der Sprache als Macht zur Bezeichnung des ganzen Restes. Doch diese Ordnung Gottes hat sich gegen eine andere Ordnung aufgerichtet: eine Ordnung, die in ihr subsistiert und sie aushöhlt.“ (4) Die in der Ordnung Gottes subsistierende Ordnung ist das Chaos, gegen das sie sich aufrichtet, ohne dass es ihr gelingen könnte, es zum Verschwinden zu bringen. Das Chaos zum Verschwinden zu bringen hieße nichts anderes als das Verschwinden zum Verschwinden zu bringen, das bei Nietzsche und Deleuze auch Werden heißt. Es geht darum, sich mit dem Verschwinden oder Werden zu arrangieren. Alles liegt daran, den Charakter dieses Arrangements = dieser Chaosassimilation zu definieren. Keinesfalls geht es um die Liquidation des Subjekts im Chaos. Man muß begreifen, dass ein vom Chaos unberührtes Subjekt immer nur als Phantasie existiert. Ein solches Subjekt wäre Subjekt einer Reinheit = Unberührtheit, die es gänzlich aus der Welt entfernte. Subjekt als schöne Seele, Subjekt der Unschuld und Weltabgewandtheit. Das Chaossubjekt mag bei Nietzsche und Deleuze hyperboräisches Subjekt der Extreme sein – tropisches und katastrophisches Subjekt –, es ist zugleich Subjekt in seiner vollen Normalität (5). Das Subjekt grenzt an das Chaos, ist von ihm durchschossen und kontaminiert, ob es ihm gefällt oder nicht.
6. ZUKUNFTDie kritische Stadt ist ein katastrophischer Körper, der an seiner Inkonsistenz wächst und kollabiert, um schließlich am Chaos seines unabschließbaren Seins zu gerieren. Eine sich in sich aus sich modulierende Substanz: rissig, fragil, transformabel und doch zugleich stabil, steinern, unverrückbar. Sie besetzt den Ort mal als lebendiger Organismus, der in alle Himmelsrichtungen strömt, mal als nahezu totes, schlafendes Tier, das sich kaum rührt. Sie ist ein offenes System und doch ein System: das heißt eine Zusammenstellung der Elemente, die sie konstituieren. Es gibt Städte, die mit anderen Städten fusionieren. Andere ballen sich zusammen wie eine geschlossene Faust. Sie erhöhen ihre Dichte und Resistenz. Keine Stadt, die nicht per se politisch wäre, polis = öffentlicher Raum. Jede Stadt konstituiert Öffentlichkeit, ist eine Sphäre geteilter Interessen, deren Verhandlung, die sie bevölkernden Subjekte leicht in Konflikte treibt. Zum Katastrophismus der Stadt gehört ihre fortlaufende Redefinition. Sie verschiebt sich gegen sich selbst. Sie verliert und gewinnt dabei: an Raum, an Masse, an Gewicht. Zu ihrer Kritizität gehört, dass sie zukunftsoffen bleibt, geöffnet auf Veränderung bis an den Rand der Selbstunkenntlichkeit. Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts diagnostiziert Heiner Müller, dass es „zu unserer Konditionierung“ gehöre, „daß es nur Gegenwart gibt und keine Vergangenheit, deswegen auch keine Zukunft.“(6) An die Stelle der konservativen Vergangenheitsanbetung und progressiven Zukunftsanhimmelung ist eine Gegenwartsverabsolutierung getreten, die den Konservatismus/Europäismus des Ursprungs wie den Progressismus/Amerikanismus des Horizonts zurückweist, um sich als eigentlichen Realismus zu deklarieren. Jedenfalls ginge es (dem marktwirtschaftlichen Kapitalismus) darum, „Zukunft zu verhindern.“(7) Der Autoritarismus der Präsenz arbeitet an der Einmauerung des Subjekts in seiner Gegenwart. Er schließt nicht nur die Tür in den Vergangenheitskeller, er verschließt noch das Tor in die (als Gegenwartsalternative imaginierte) Zukunft und nimmt dem Subjekt damit das Vertrauen aufs Gewesene wie die Hoffnung aufs Kommende, weshalb er paralysierend wirkt, sofern er sich zu oft in der Apologie des Bestehenden, wie Adorno & Horkheimer es ausdrücken, erschöpft, d.h. in der Affirmation des sozio-politischen Status quo. Indem er sie restlos auf sie verpflichtet, neutralisiert er das kritische Reflexionsvermögen der Subjekte auf ihre Gegenwart und nimmt ihnen den letzten Rest an Fantasie. „In der Gegenwart leben ist bewußtlos leben“(8), konstatiert Müller. Man treibt im Strom des Bestehenden wie in einem alternativlosen Milieu. Mit der Zukunft sind dem Menschen mehr als nur ihr ins Leere greifender Utopismus und ihre naiven Hoffnungen genommen, mit der Zukunft verschwindet noch ihre Gegenwart als Element aktiver Lebensgestaltung und politischer Innovation.
7. INNOVATIONSich in Permanenz neu zu erfinden, ist Merkmal der kritischen Stadt, insofern sie in der reaktiven Selbsteinschließung ihren Tod erkennt. Um nicht zu sterben, muss sie leben. Es ist diese Lebendigkeit, die sie konstituiert wie fragilisiert. An ihren Bruchlinien öffnen sich Zonen ihrer Redefinition, Rekomposition, Rekonstitution. Durch sie weht der Lufthauch der Geschichte wie der kalte Atem der Ökonomie. So sehr das Wort „Innovation“ zu einem neoliberalen Slogan verkümmert ist, so sehr indiziert es das Unerläßliche. Eine Stadt, die sich in ihrer Vergangenheit vergräbt, dient bestenfalls zur Touristenattraktion. Andy Warhol wusste, dass nur die Stadt eine Zukunft hat, die aus ihrer Vergangenheit ins Künftige beschleunigt. Seine Überlegungen zur idealen Stadt sind legendär:
“My ideal city would be one long Main Street with no cross streets or side streets to jam up traffic. Just one long oneway street. With one tall vertical building where everybody lived with:
One elevator
One doorman
One mailbox
One washing machine
One garbage can
One tree out front
One movie theater next door
Main Street would be very very wide, and all you'd have to say to someone to make them feel good is, "I saw you on Main Street today."
And you'd fill your car up with gas and drive across the street.
My ideal city would be completely new. No antiques. All the buildings would be new. Old buildings are unnatural spaces. Buildings should be built to last for a short time. And if they're older than ten years, I say get rid of them. I'd build new buildings every fourteen years. The building and the tearing down would keep people busy, and the water wouldn't be rusty from old pipes.“ (9)
1 Das Subjekt muss sich selbst entkommen, um es selbst zu sein. Sein Selbst liegt nicht in ihm, wie eine Innerlichkeit oder ein Schatz. Es realisiert und konstituiert sich im Moment der Selbstüberschreitung und De-Subjektivierung. „Eine Erfahrung“, sagt Foucault, „ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht.“ (Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt a. M. 1996, S. 24). Daher ist der Moment der Erfahrung mit der Krise und dem Scheitern verknüpft. Aber auch mit der Überraschung und unvorhergesehenem Glück. Foucault spricht deshalb auch von „Grenzerfahrung“ und „Ent-Subjektivierung“. In der Erfahrung treibt sich das Subjekt an sein Limit. Es rührt an seine Grenze wie an ein Nichts. Nur so kann es sich von der Versuchung narzisstischer Selbstbestätigung befreien. In der Öffnung auf das Andere seiner selbst. Im Wagnis einer Reise von Nichts zu Nichts.2 Es gehört zur kritischen Kraft des Denkens, allen Realitäten zu mißtrauen, die sich als evident und unmittelbar präsentieren. Der Kult der Unmittelbarkeit – der sich, wie Adorno und Derrida gezeigt haben, mit einer Metaphysik der Präsenz samt der sie flankierenden Idealismen verbindet – droht jedes Denken zu ersticken, indem er es mit Pseudo-Evidenzen versorgt. Dabei bedeutet doch zu denken, sich dem Selbstverständlichen zu entziehen. Das Denken reißt Löcher ins Bestehende. Statt sich den dominanten Evidenzen zu assimilieren, liefert es Belege ihrer Inkonsistenz. Dies geht nur, indem es für Momente den Boden unter den Füßen verliert. Der kritische Augenblick des Denkens ist der eines gewissen Realitätsverlusts. In ihm erfährt das Subjekt die Instabilität aller Tatsachen. Die Analyse der relativen Konsistenz der Tatsachendomäne erweist sie als Dimension konfligierender Stereotypen, deren Funktion in der Verdeckung ihrer ontologischen Inkonsistenz liegt. Denken bedeutet, die Inkonsistenz des Realitätsgefüges als dessen Wahrheit zu affirmieren.
3 Gilles Deleuze, „Was ist der Schöpfungsakt?“, in ders., Schizophrenie & Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975-1995, Frankfurt a. M. 2005, S. 307.
4 Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt a. M. 1993, S. 354f.
5 Keinem Subjekt wird es gelingen, simultan mit sich zu sein. Immer gibt es eine Art quasi-ontologischer Inkongruenz mit sich. Immer steht es quer zu seinem Selbst. Nie kommt es ganz mit sich überein. Das ist der Spielraum, der ihm bleibt. Der Raum auch einer gewissen Freiheit, die die Freiheit ist, nicht es selbst zu sein. Eine problematische oder kritische Freiheit, insofern sie unentscheidbar von seiner objektiven Unfreiheit qua Gegenwartsverstrickung ist. Statt sich in der Freiheit zu bewegen, ist das Subjekt frei, unfrei zu sein. Es markiert nichts als den Abstand, den es zu sich hält. Räumlicher Abstand und temporale Differenz zu sich, die seine prekäre Gegenwart ausmachen. Das Subjekt nach dem Tod des Subjekts ist Subjekt gesteigerter Fragilität.
6 Heiner Müller, „Das war fast unheimlich. Ein Gespräch mit Stephan Speicher für Der Tagesspiegel“, in: H.M., Gespräche 3: 1991-1995, Werke 12, Frankfurt a. M. 2008, S. 100.
7 Heiner Müller, „Geschichte geht immer auf Umwegen. Interview mit Heiner Müller“, in: H.M., Gespräche 3: 1991-1995, Werke 12, a.a.O., S. 76.
8 Heiner Müller, „Das war fast unheimlich. Ein Gespräch mit Stephan Speicher für Der Tagesspiegel“, in: H.M., Gespräche 3: 1991-1995, Werke 12, a.a.O., S. 100.
9 Andy Warhol, The Philosophy of Andy Warhol (From A to B and Back Again), New York 1975, S. 36.